Als Manfred Genditzki aus dem Gerichtssaal kommt, brandet Applaus auf. Freunde, Angehörige und Unterstützer fallen ihm um den Hals - viele mit Tränen in den Augen. Nur der 63-Jährige bleibt erstaunlich ruhig. Sein Gesicht verrät keine Gefühlsregung. «Ich werde keine Freudensprünge machen», sagt er. «Einen Grund zum Jubeln habe ich nicht, 14 Jahre sind weg.» Kurz zuvor hat das Landgericht München I ihn mit einem bemerkenswerten Urteil von dem Vorwurf freigesprochen, er habe im Oktober 2008 eine Seniorin in der Wohnanlage, in der er als Hausmeister arbeitete, in ihrer Badewanne ertränkt. Er sei «aus tatsächlichen Gründen wegen erwiesener Unschuld freizusprechen» von dem Vorwurf, für den er zuvor zweimal verurteilt worden war und rund 13 Jahre zu Unrecht im Gefängnis gesessen hatte. Der Tod der alten Frau sei kein Verbrechen, sondern ein Unfall gewesen, befindet das Gericht und stützt sich dabei auf Gutachten, die dazu führten, dass das Verfahren nach so langer Zeit überhaupt noch einmal aufgerollt wurde. «Es tut uns wirklich aufrichtig leid», sagt die Vorsitzende Richterin Elisabeth Ehrl, die sichtlich ergriffen ist bei der Urteilsbegründung und am Schluss sogar mit den Tränen zu kämpfen scheint. Es tue dem Gericht leid, «dass Sie mitten aus Ihrem normalen Leben gerissen wurden», dass es Genditzki nicht vergönnt gewesen sei, «Ihre beiden jüngeren Kinder aufwachsen zu sehen, zur Beerdigung Ihrer Mutter zu gehen». Es sei ein steiniger Weg für Genditzki gewesen, den er mit bewundernswerter Geduld gegangen sei. «Wie es in Ihnen aussieht, kann man nur erahnen.» Genditzkis Kinder weinen im Zuschauerraum, während sie das sagt. Und dann wird sie sehr deutlich: «Warum konnte Herr Genditzki damals überhaupt verurteilt werden», fragt sie und zeigt sich «sehr verwundert über die damalige Ermittlungsarbeit». «Wir können letztlich nicht beurteilen, warum damals und in den folgenden Jahren alles irgendwie schiefgelaufen ist», sagt Ehrl. Ihr scheine es aber so «als ob hier manches sehr einseitig verarbeitet und zu Lasten von Herrn Genditzki» ausgelegt worden sei. Sie spricht von einer «Kumulation von Fehlleistungen», davon, dass «Kontrollmechanismen hier nicht funktioniert haben» und dass darum einem Menschen «viele Jahre seines Lebens in Freiheit genommen wurden». Genditzki war nach seiner ersten Verurteilung durch das Landgericht München II in Revision gegangen. Der Bundesgerichtshof verwies das Verfahren an eine andere Kammer des Landgerichts München II zurück, die ihn im Januar 2012 erneut wegen Mordes zur Verdeckung einer anderen Straftat und Körperverletzung zu lebenslanger Haft verurteilte. Auch hiergegen legte Genditzki Revision ein - dieses Mal ohne Erfolg. Jahrelang kämpfte er danach für ein Wiederaufnahmeverfahren, sammelte Spenden für neue Gutachten und wurde im vergangenen Jahr schließlich aus der Haft entlassen, weil aus Sicht der Justiz nach Vorlage dieser Gutachten kein dringender Tatverdacht mehr bestand. «Das ist eine Tragödie, die sich kaum in Worte fassen lässt», sagt Gerichtssprecher Laurent Lafleur, der eine schwierige Rolle hat an diesem Tag, weil er nicht nur das Landgericht München I vertritt, sondern auch das Landgericht München II, das Genditzki zweimal verurteilt hatte. «Das ist Rechtsstaat», sagt Genditzkis Anwältin Regina Rick, die zehn Jahre lang mit ihm gekämpft hat, nach dem Urteil. Der Fall, die Rolle der Behörden und auch der Münchner Rechtsmedizin müsse aufgearbeitet werden - und auch das Thema Entschädigung werde noch viel Zeit in Anspruch nehmen. Dass die Staatskasse Genditzki für die Zeit, die er zu Unrecht im Gefängnis saß, entschädigen muss, ist Teil des Urteils, wie hoch die Summe ist, die er letztlich bekommt, allerdings noch offen. Ein zu Unrecht Inhaftierter bekommt in Deutschland 75 Euro pro Haft-Tag immateriellen Schadenersatz. Das wären in Genditzkis Fall weniger als 400.000 Euro für 13 Jahre, in denen er seine Kinder kaum sah und die Geburt des Enkelkindes verpasste. Zusätzlich zur Entschädigung kann Genditzki noch materiellen Schaden geltend machen, beispielsweise wegen Verdienstausfalls. Der Deutsche Anwalt-Verein fordert schon seit Jahren höhere Entschädigungen für Menschen, die zu Unrecht im Gefängnis saßen. «Man kann verlorene Freiheit nicht ersetzen, aber für eine symbolische Wiedergutmachung bräuchte man ein Mindestmaß von 100 Euro am Tag», sagt Bernd Müssig, Mitglied des DAV-Strafrechtsausschusses. Erst 2020 wurde der Satz von 25 auf 75 Euro erhöht. «25 Euro waren eine Katastrophe, aber 75 reichen auch noch nicht.» Wie oft und in welcher Gesamthöhe solche Entschädigungen in Deutschland ausgezahlt werden, ist nicht ganz klar. Zwar hat das Bundesjustizministerium nach Angaben einer Sprecherin 2022 bei den Ländern um entsprechende Zahlen gebeten, sie aber nicht von allen bekommen. «Angaben fehlen insgesamt für die Länder Bayern, Niedersachsen und Thüringen, für Hamburg aufgrund fehlender Erfassung für die Fälle der Strafhaft», teilte das Ministerium mit. Aus den vorliegenden Daten ergibt sich, dass in den übrigen Bundesländern in den Jahren 2019 bis 2021 insgesamt 14 Menschen für insgesamt 13.713 Hafttage entschädigt wurden. Dabei ging es nach Angaben der Sprecherin allerdings in erster Linie um Entschädigungen für die Untersuchungshaft oder eine einstweilige Unterbringungen und nur in den seltensten Fällen - wie bei Genditzki - im Strafhaft. Möglichkeiten, an schief gelaufenen Verfahren Beteiligte wie Staatsanwälte oder Richter zu belangen, sieht Müssig vom DAV kaum. «So bitter es ist: Recht wird von Menschen gemacht und Menschen machen Fehler.» Genditzki fährt nach dem Urteil, auf das er so lange gewartet hat, in ein Münchner Wirtshaus. Dort trifft er sich mit Unterstützern, Journalisten, Freunden und Angehörigen. Er stößt an, man umarmt ihn, klopft ihm auf die Schulter. Er wolle aber nicht lange bleiben, sagt er. Zum Feiern sei ihm nicht zumute.Unfall statt Mord
Richterin kritisiert Justiz
Langer Weg
Finanzielle Entschädigung
Entschädigung kein Einzelfall
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Freispruch beim «Badewannen-Mord»: «Keine Freudensprünge»
Manfred Genditzki saß 13 Jahre lang unschuldig in Haft. Eine «Tragödie» sei der Fall, sagt ein Gerichtssprecher. Die Richterin sieht ein Versagen der Justiz.
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